Vier Wochen nach seinem 100. Geburtstag ist Pierre Dawance (28.11.1924 – 27.12.2024) Ende 2024 in Paris gestorben. Dawance war der letzte Überlebende des KZ-Außenkommando Kochendorf, mit dem die Stadt Bad Friedrichshall und die Miklos-Klein-Stiftung in Kontakt stand. Ende November hatte Dawance noch im Kreise seiner Familie und Freunden in Paris seinen runden Geburtstag gefeiert. Dazu waren auch Bürgermeister Timo Frey und Vertreter der Miklos-Klein-Stiftung aus Bad Friedrichshall nach Paris gereist. Der KZ-Überlebende hielt vor der Geburtstagsgesellschaft sogar noch eine Rede, in der er wie viele Male zuvor die Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft betonte.
Dawance war 1999 erstmals nach seiner Befreiung 1945 nach Bad Friedrichshall gereist. Anlass war die Eröffnung der KZ-Gedenkstätte im Besucherbergwerk Kochendorf, dem Ort, an dem der Franzose während seiner Haftzeit 1944/45 Zwangsarbeit leisten musste. Dass französische KZ-Überlebende die Aussöhnung suchten, war nicht selbstverständlich. Dawance berichtete, dass seine Fahrt nach Deutschland in seinem Veteranenverband früherer Zwangsarbeiter umstritten gewesen sei. Etliche der Veteranen hätten die vielen ums Leben gekommenen Kameraden sowie die Folter und Demütigungen, die sie in deutscher Haft erdulden mussten, nicht verzeihen können. Mehr als 80 französische Häftlinge waren in Kochendorf oder auf dem Todesmarsch nach Dachau gestorben. Die erste Reise zurück nach Bad Friedrichshall fiel auch Pierre Dawance schwer, wie er später sagte. Die schrecklichen Erinnerungen seiner Haftzeit seien damals wieder lebendig geworden. Und doch überwog für ihn, dass er nun eine andere Stadt erlebte und neue Freunde fand. Zu den ersten beiden Besuchen kam er allein, bei den dann folgenden brachte er immer eines seiner vier Kinder und meistens auch einen seiner Enkel mit, um ihnen den Ort seiner Haft, aber auch das Gesicht des heutigen Bad Friedrichshalls zu zeigen.
Das damals 19-jährige Mitglied der Widerstandsbewegung war kurz vor der Befreiung an die NS-Besatzer verraten worden und Anfang September 1944 von seiner Heimatstadt Lille ins KZ Sachsenhausen bei Berlin verschleppt worden. Einen Monat später kam er ins KZ Außenlager Kochendorf, wo er ein halbes Jahr blieb. Anschließend wurde er mit knapp 400 kranken oder verletzten Häftlingen mit dem Zug nach Dachau transportiert. Mindestens 54 der Menschen starben während des Transports. Als die US-Armee das KZ Dachau am 30. April 1945 befreite, war Dawance schwer erkrankt und stark abgemagert. Er musste mehr als zwei Jahre in Deutschland zur Erholung bleiben, bis er transportfähig war und zurück in die Heimat konnte. In Lille zeigte man wenig Interesse an Dawance‘ Schilderungen aus seiner Haftzeit in Deutschland. Die Menschen wollten nichts mehr vom Krieg wissen. Weil es ihm schwerfiel, sich zu integrieren, entschied er sich für einen Neuanfang und zog nach Paris. Dawance arbeitete als leitender Angestellter einer Versicherungsgesellschaft. Seine Haftzeit ließ ihn aber nie los, weshalb er sich in einem Veteranenverband überlebender KZ-Häftlinge engagierte.
Erschüttert reagierte Dawance als er bei einer Gedenkfeier in Bad Friedrichshall im Jahr 2010 von den Schließungsplänen des Besucherbergwerks erfuhr. Er ging spontan ans Rednerpult und hielt einen emotionalen Appell zum Erhalt der Gedenkstätte im Bergwerk.
2017 verlieh die Stadt Bad Friedrichshall Dawance die Ehrennadel für seinen Einsatz für die Versöhnung und die deutsch-französische Freundschaft. 2021 reiste Dawance unter körperlichen Strapazen ein letztes Mal in Begleitung seines Sohnes und einer Tochter nach Bad Friedrichshall. Mit der Feier seines 100. Geburtstages im November 2024 ging sein letzter Wunsch in Erfüllung.
Pierre Dawance (5. von links) 2017 bei der Verleihung der Ehrennadel im Beisein seines Sohnes und seines Enkels.